Charlotte

Eine junge Frau, die sich mehrfach das Leben nehmen wollte, wird vom Opfer der Zwangsprostitution zur Kämpferin für andere Frauen. Ein Interview.

Eine junge Frau, die sich mehrfach das Leben nehmen wollte, wird vom Opfer der Zwangsprostitution zur Kämpferin für andere Frauen. Unsere Autorin Ute Cohen hat mit ihr über kulturelle Konflikte, mangelnde Mutterliebe und weibliche Selbstbestimmung gesprochen.

 

Interview: Ute Cohen
Foto: Matthias Bauch

Es ist einer dieser Tage, die nur zu ertragen sind, wenn man sich einen Silberstreif am Horizont imaginiert. Der Regen prasselt unablässig aus einem Berliner Himmel, den man eher von gnadenlosen Teufeln als von unschuldigen Engelein bevölkert glaubt. Vor dem Klinikum am Urban sammeln sich Schwäne auf dem Landwehrkanal, als wollten sie bedeuten, dass Erhabenheit über alle Tristesse triumphieren werde. Der Eingangsbereich der Klinik ist erstaunlich leer. Ein Kind fährt einen alten Mann zu beider Gaudi im Rollstuhl herum. In der Auslage des Krankenhausfriseurs reihen sich Perücken auf Puppenköpfen. Auf einer geschwungenen Holzbank sitzt Charlotte. Es ist der Name, den sie selbst sich gibt, ein Name, der eine Zäsur setzt zu einer Vergangenheit, die sie besiegen wird. Wir umarmen uns, schweigen einen Moment. Sie ist hier, weil sie nicht mehr leben wollte. Sie ist hier und spricht mit mir.

Ute Cohen: Charlotte, wenn du die Namen Ismail und Nabiel hörst, was löst das in dir aus?

Charlotte: Ekel. Schmerz, Unrecht und extrem viel Wut. Das sind meine Gefühle.

Was ist passiert?

Vor fünf Jahren, ich war sechzehn Jahre alt, bin ich aus dem Internat weggerannt, weil ich dort oft eingesperrt war. Ich brauchte dringend Geld und kam auf die dumme Idee, mich kurzfristig zu prostituieren. Leider bin ich sofort in die Hände von Ismail gefallen, der mich mit der typischen Loverboy-Masche um den Finger gewickelt, manipuliert und ausgenutzt hat. Ich hatte ja keinen Kontakt mehr zu meiner Familie und war ganz allein auf mich gestellt.

Wie kam es zu dem Bruch mit deiner Familie?

Meine Familie ist sehr muslimisch religiös. Ich dagegen wollte die westliche Kultur annehmen, weshalb sie mich verstoßen haben. Meine Mama ist afghanisch-italienisch, mein leiblicher Vater afghanisch-kubanisch, mein Stiefvater ein türkischer Kurde. Das war schon kompliziert genug mit diesen extremen Glaubenssätzen, und dann kommt dann noch das kleine Kindchen um die Ecke und will die westliche Kultur und ihre Rechte. Ich bin ja seit meinem fünften Lebensjahr hier in Berlin aufgewachsen.

Wurde bei euch Sexualität thematisiert?

Um Gottes Willen, da wurde nicht drüber gesprochen. Das wäre ein Tabuthema gewesen, bis ich verheiratet gewesen wäre. Aufklärung gab’s da nicht, das war total mittelalterlich.

Du hast mir gerade erzählt, dass du einen Selbstmordversuch begangen hast, nachdem du erfahren hast, dass dich dein Vater als Kind vergewaltigt hat.

Ich hatte das vollkommen verdrängt, wurde aber immer wieder von Albträumen heimgesucht. Meine Mutter – na ja, ob man sie Mutter nennen kann – habe ich dann gefragt, ob irgendetwas passiert sei, was ich wissen müsse. Dann hat sie mir erzählt, dass mein Vater mich als Fünfjährige vergewaltigt hat. In dem Moment ist eine ganze Welt für mich zusammengebrochen, weil ich gemerkt habe, mein ganzes Leben war eine Lüge.

Wie geht das zusammen mit dieser extremen Religiosität?

Ich habe meine Mutter immer verteidigt, weil sie uns Kinder von unserem Vater weggebracht hat, dachte immer, wenigstens wurde ich nicht angefasst, und nun kommt das raus!

Welcher Stellenwert wird weiblicher Sexualität in diesem konservativen Umfeld zugemessen?

Meine Familie war wirklich sehr traditionell. Zu dem Thema habe ich mal etwas geschrieben: „Sie haben mir gesagt, ich soll Kopftuch tragen, immer artig sein. Ich soll stets das Lieblingsparfum meines Mannes tragen und ihm seine Wünsche erfüllen und meine hintanstellen. Der Mann ist das Oberhaupt der Familie.“ Dabei bedeutet im Islam der Begriff Hausfrau „Herrin des Hauses“, aber so wurde ich nicht erzogen. Eine eigene Sexualität, oh je! Nee, gar nicht!

Hat dich dieses strenge, ungerechte Gebaren aus der Familie weggetrieben?

Ja, ich fühlte mich eingeschlossen, nicht akzeptiert. Ich wurde auch von meiner Mutter immer wieder zurückgewiesen, weil ich eher aussehe wie mein Vater. Sie hat mir auch immer wieder gesagt, dass das Blut eines Mörders und Vergewaltigers in mir fließt.

Dein Vater ist ein Mörder. Saß er für seine Tat im Gefängnis?

Nein, er genießt Diplomatenimmunität.

Eine ungesühnte Tat also? Hast du schon dadurch den Glauben an Gerechtigkeit verloren?

Ja, für mich gibt es keine Gerechtigkeit. Zumindest, was sexuelle Gewalt betrifft.

Die Männer beuteten dich aus, nahmen dir das Geld weg, ließen dich sogar die Prostitutionswohnung zahlen. Warum hast du das mit dir machen lassen?

Die haben meine Situation ausgenutzt. Ich war jung, naiv und hab mich so sehr nach Liebe gesehnt, ich habe versucht, mich an jedem Grashalm festzuhalten. Ich dachte, die wollten mir wirklich helfen. Die haben mir Honig ums Maul geschmiert und mir die „Liebe“ und Akzeptanz gegeben, die ich von meiner Mutter nicht bekam. Ich sehe heute sehr viel Schuld bei meiner Mutter. Sie hätte für mich da sein müssen.

Weiß sie das, dass du sie verantwortlich machst?

Nein, das weiß sie noch nicht. Ich habe mich noch nicht getraut, es ihr zu sagen. Aber irgendwie muss man ja diesen verdammten Urinstinkt, der einen an seine Mutter bindet, überwinden. Das ist so abartig, dieser Kampf zwischen „Ich hasse dich über alles, wünsche dir sogar den Tod“, und dann wiederum „Lieb mich!“. Die Natur kann echt ein Arschloch sein.

Du erklärst deine Lage mit dem Verhältnis zu deiner Mutter. Gab es noch andere gewaltsame Umstände?

Ja, die Männer haben mich kontrolliert. Sie checkten regelmäßig meine Standorte. Ich durfte keine Freunde treffen, damit ich mich immer erfolgreich vor dem Staat verstecken konnte. Das war schon heftig! Die haben das richtig eiskalt und skrupellos ausgenutzt, dass ich aus dem Internat geflohen war.

Waren da auch Drogen im Spiel?

Oh ja, ne ganze Menge. Ne Menge Kokain. Ich sollte Kokain nehmen, damit ich erfolgreich in meinem Beruf bin. Na, Beruf … Prostitution ist ja eigentlich ein Beruf, wenn sie nicht zwangsweise ausgeübt wird. Das war schon hart. Es kam vor, dass ich am Tag zwei Gramm Koks schnupfen musste. Mit sechzehn. Ich war schwer abhängig.

War dir überhaupt noch bewusst, was da abgegangen ist?

Leider ja, ich habe alles mitbekommen. Mir wurde eingedrillt: Du musst eine gute Prostituierte sein, damit deine Kunden wiederkommen und damit du dir eines Tages alles kaufen kannst, was du willst. Ich wollte Ismail auch nicht enttäuschen, so wie ich auch meine Mutter nie enttäuschen wollte. Mit ihm wollte ich auf keinen Fall was falsch machen.

Das Koks musstest du auch noch selber bezahlen? Dafür musstest du …

Ja, (nickt) ne ganze Menge Männer … Ich weiß nicht, irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, aber am Wochenende waren es schon mal über hundert. (Schweigt)

Wie lange hast du das ertragen?

Ich hab’s Gott sei Dank geschafft, nach nur anderthalb Monaten – aber was heißt „nur“? – wegzurennen.

Waren die beiden Männer, die dich unter Kontrolle hatten, die einzig Verantwortlichen?

Ich denke, da waren einige. Ich habe mehrere kennen gelernt, hatte aber keinen näheren Kontakt zu denen.

Hast du heute keine Angst vor diesen Leuten?

Ich habe keine Angst mehr, nein, denn ich hab’s überlebt. Was können sie mir noch tun? Sie haben mich damals nicht untergekriegt, was sollen sie heute noch versuchen?

Konntest du dich niemandem anvertrauen?

Nein. Der (Ismail, U.C.) hat mich so geschickt manipuliert mit dieser Loverboy-Nummer. Ich war ein gefundenes Fressen für ihn, für die. Die haben mich derart in der Hand gehabt, aber richtig.

Als auch noch andere Mädchen zur Prostitution gezwungen wurden, habt ihr nicht versucht, gemeinsam aus eurer Zwangslage auszubrechen?

Ich wusste erstmal gar nicht, dass es andere Mädchen gab. Ohne Mist, ich wusste es nicht. Erst durch meine Anzeige haben sie die anderen Mädchen auch befreit. Darauf bin ich sehr stolz!

Wie kam es zu der Anzeige?

Ich hatte eine Bekannte, die auch in diesem Milieu unterwegs gewesen war. Sie sagte zu mir: „Du prostituierst dich doch!“ Ich sagte: „Nein.“ Sie dagegen: „Das seh ich doch an deinen Klamotten.“ Sie hat mich dann überredet, bei ihr zu bleiben. Sie war selbst in einer therapeutischen Wohneinrichtung, hatte einen ziemlichen Knacks weg. Mit ihrer Hilfe habe ich es schließlich geschafft, zur Polizei zu gehen, und daraufhin wurden auch die anderen Mädchen befreit.

Was mir nicht in den Kopf will: War denn keiner von deinen Freiern bereit, dir zu helfen? Die haben doch gesehen, dass du auf Drogen warst und unter Druck.

Das interessiert die nicht. Die wollen rein, raus, fertig und dann weg. Das ist unsere Gesellschaft heutzutage: Wegschauen! Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle aufeinander aufpassen.

Ihr wurdet auf Internetplattformen zum Kauf angeboten. Versagen im Netz die Kontrollmechanismen?

Ja, ich wurde auf kaufmich.com angeboten. Es gab Fotos von mir. Offiziell war ich eine Studentin namens Thalia, meine Freizeitaktivitäten wurden angegeben, warum ich Geld verdienen wollte. Die Kontrolle versagt da volle Kanne. Man müsste viel mehr auf das Alter achten; mal eine komplette Mannschaft losschicken, um die Prostituierten zu kontrollieren. Sie observieren, kontrollieren … Ich verstehe, dass freiwillige Prostituierte das nicht wollen, aber Frauen, die wie ich da reingezogen werden, bräuchten diese Kontrolle. Man muss die Jugendlichen stärker schützen und viel entschlossener gegen die Clans vorgehen. Dafür müsste Geld ausgegeben werden – und nicht für einen beschissenen Flughafen, der eh nicht fertig wird.

Ist Sex eine Ware wie jede andere?

Ich denke nicht, dass Sex eine Ware ist, sondern eine Dienstleistung. Das ist ganz wichtig, dies zu differenzieren. Wenn eine Frau Spaß daran hat, dann soll sie sich prostituieren. Das erfordert aber Kontrolle, um Menschen wie mich, die gezwungen werden, zu schützen.

Die Gegner der Prostitution betonen den menschenverachtenden Charakter, die Befürworter die Selbstbestimmung über den Körper. Welcher Position neigst du zu?

Ich bin da sehr neutral. Jeder soll das machen, wie er will. Es gibt tatsächlich auch Frauen, die unter Nymphomanie leiden und diese so super ausleben können, sofern sie diese nicht therapieren wollen. Es geht darum, ob Prostitution freiwillig passiert.

Die radikale Position Alices Schwarzers oder das schwedische Modell verfichtst du also nicht?

Nein, definitiv nicht! Jeder soll darüber entscheiden, was er mit seinem Körper machen möchte. Man darf jemandem nicht das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu nehmen. Das ist eine Einschränkung der Menschenrechte. Punkt.

 
 

Das vollständige Interview lesen Sie in Séparée No.23.

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